"Heute ist erst der erste Tag“, denke ich, während ich versuche unsere große Tochter davon abzuhalten ihren kleinen Bruder vom Boden aufs Sofa zu zerren. Er soll dort schlafen, meint sie. Normalerweise gehören die Vormittage unserem Sohn und mir. Meistens schläft er, während ich mit meiner Elternzeit in Ruhe den Haushalt erledigen kann. Manchmal nehme ich mir mit einer Freundin auch bewusst Zeit für den Kleinen. Und jetzt ist alles anders. Und doch weiß ich – das ist Klagen auf hohem Niveau. Ich bin nicht alleinerziehend, ich muss mir keine Gedanken um die Betreuung meiner Kinder machen, muss zur Zeit nicht arbeiten. Ich kann den Großeltern zwar mit Bedauern, aber doch entspannt sagen, dass sie bitte daheim bleiben sollen, um sich ja nicht anzustecken.
Viele Eltern stehen vor viel größeren Herausforderungen in diesen Tagen und Wochen. Und doch merke ich die Anspannung auch bei mir, die Ungeduld, die sich manchmal auch in Ungerechtigkeit gegenüber unseren Kindern äußert. Dieses Gefühl von Unwirklichkeit. Und dann bekomme ich heute einen Text zugeschickt, per WhatsApp:
„Es könnte sein, dass in Italiens Häfen die Schiffe für die nächste Zeit brach liegen, … es kann aber auch sein, dass sich Delfine und andere Meereslebewesen endlich ihren natürlichen Lebensraum zurückzuholen dürfen. Delfine werden in Italiens Häfen gesichtet, die Fische schwimmen wieder in Venedigs Kanälen!
Es könnte sein, dass sich Menschen in ihren Häusern und Wohnungen eingesperrt fühlen, … es kann aber auch sein, dass sie endlich wieder miteinander singen, sich gegenseitig helfen und seit langem wieder ein Gemeinschaftsgefühl erleben. Menschen singen miteinander!!! Das berührt mich zutiefst!
Es könnte sein, dass die Einschränkung des Flugverkehrs für viele eine Freiheitsberaubung bedeutet und berufliche Einschränkungen mit sich bringt,… es kann aber auch sein, dass die Erde aufatmet, der Himmel an Farbenkraft gewinnt und Kinder in China zum ersten Mal in ihrem Leben den blauen Himmel erblicken. Sieh dir heute selbst den Himmel an, wie ruhig und blau er geworden ist!
Es könnte sein, dass die Schließung von Kindergärten und Schulen für viele Eltern eine immense Herausforderung bedeutet,…es kann aber auch sein, dass viele Kinder seit langem die Chance bekommen, endlich selbst kreativ zu werden, selbstbestimmter zu handeln und langsamer zu machen. Und auch Eltern ihre Kinder auf einer neuen Ebene kennenlernen dürfen.
Es könnte sein, dass unsere Wirtschaft einen ungeheuren Schaden erleidet,… es kann aber auch sein, dass wir endlich erkennen, was wirklich wichtig ist in unserem Leben und dass ständiges Wachstum eine absurde Idee der Konsumgesellschaft ist. Wir sind zu Marionetten der Wirtschaft geworden. Es wurde Zeit zu spüren, wie wenig wir eigentlich tatsächlich brauchen.
Es könnte sein, dass dich das auf irgendeine Art und Weise überfordert, … es kann aber auch sein, dass du spürst, dass in dieser Krise die Chance für einen längst überfälligen Wandel liegt,
Wir werden wachgerüttelt, weil wir nicht bereit waren es selbst zu tun. Denn es geht um unsere Zukunft. Es geht um die Zukunft unserer Kinder!!!“
(nach Recherchen im Internet stammt der Text wohl von Tanja Draxler – nachzulesen unter https://www.tanjadraxler.com/blog/mutmachende-worte-in-zeiten-der-krise/)
Ich weiß nicht, wie dieser Text auf Menschen wirkt, die gerade um ihre Existenz bangen müssen, die nicht wissen, wie sie die nächste Rechnung bezahlen sollen. Oder die, für die das Virus tatsächlich lebensbedrohend ist.
Aber mir zeigt er in diesem Moment die andere Seite. Ich schaue in den Himmel – und er ist wirklich blau wie sonst nie. Und unsere Tochter baut dafür im Wohnzimmer ein Flugzeug aus Kissen, Stühlen und Decken – ich darf einsteigen.
„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“, diese Worte aus Prediger 3 kommen mir in den Sinn. Ja, nun hat anderes Zeit als wir sonst gewohnt sind. Die Zeit dehnt sich für manche vielleicht. Und doch bleibt die Zeit in Gottes Hand und wir bekommen sie von ihm. Und während wir versuchen, die Schwächeren zu schützen, schenkt er uns vielleicht auch eine neue Sicht auf den Himmel – oder unsere Kinder. Und sei es über eine WhatsApp-Nachricht…
Kathrin Fingerle
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